Work-Life-Balance in der Unternehmensberatung: der gordische Knoten und wie man ihn löst
Die Bemühungen, berufliche, familiäre und persönliche Ansprüchen unter einen Hut zu bringen, gehören mittlerweile zum Alltag und machen uns zum Don Quijote im Kampf gegen die Windmühlen. Der Begriff Work-Life-Balance vermag vielleicht das Problem optisch und akustisch etwas zu verschönern, gelöst ist es deshalb jedoch nicht.
Dabei kennen wir es alle aus der umfangreichen Literatur zum Thema und vor allem aus eigener Erfahrung: Wenn es uns im Privatleben gut geht, arbeiten wir besser, und wenn wir im Berufsleben zufrieden sind, sind wir bessere Väter, Mütter, Partner und Partnerinnen, wir sind gesund, fühlen uns gut und leben erfüllter. Wir wissen es, und wir würden dieses Gleichgewicht sofort herstellen, wenn wir nur die Zeit und den Freiraum dazu hätten. Wer sich mit Fragen betrieblicher Effizienz und unternehmerischer Effektivität beschäftigt, kommt am Thema Work-Life-Balance nicht vorbei. Die Kultur eines Unternehmens prägt dessen Wettbewerbsfähigkeit; ein betriebliches Umfeld gestalten, in dem sich die Mitarbeiter wohl fühlen, ist eine wichtige unternehmerische Führungsaufgabe und bildet die Grundlage für die Erbringung von Spitzenleistungen. Im Folgenden wird der gordische Knoten Work-Life-Balance in der Beratungsbranche beleuchtet und gezeigt, wie umsichtige Planung und offene Kommunikation dem Berater, der Beraterin und den Klienten dienen.
1. Die Balance gestern und heute
Um das Thema richtig zu erfassen, bedarf es eines Blicks zurück. Noch vor 50 Jahren verfügten wir über ein klares Rollenbild und eine geteilte Arbeitswelt: Der Mann, zuständig für das Familieneinkommen, ging zur Arbeit, während die Frau zuhause blieb und die Familie versorgte. Die Wortwahl zeigt es: Als Arbeit galt die bezahlte Tätigkeit außer Haus, Arbeit und Familie waren gesellschaftlich klar getrennt. Hinter diesem Modell standen weniger Traditionen, sondern die modernen industriellen Produktionsmethoden und damit verbunden ein neuer Wohlstand, der es ermöglichte, mit nur einem Einkommen eine Familie zu ernähren. Der Wandel in der Arbeitswelt begann sich im deutschen Sprachraum in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts durchzusetzen: In einer Phase heftiger Emanzipierung forderten immer mehr Frauen den ihnen zustehenden Platz in den Bildungsinstitutionen und auf dem Arbeitsmarkt. Sie wollten eine anspruchsvolle, bezahlte Tätigkeit, ohne auf Kinder verzichten zu müssen. Mit dieser Entwicklung löste sich einerseits die Trennung zwischen Arbeits- und Familienwelt auf, andererseits beeinflussten gesellschaftspolitische Fragen immer stärker die unternehmerischen Entscheidungen.
Auch in der Beraterbranche ist der Frauenanteil in den letzten Jahrzehnten gestiegen, in vielen Firmen beträgt er heute 25 Prozent und mehr. Es ist deshalb von besonderer Bedeutung, Personalplanungs- und -entwicklungskonzepte spezifisch auch auf die Bedürfnisse von Beraterinnen abzustimmen.
2. Die Balance zwischen Selbstverantwortung und Anreiz
Work-Life-Balance wurde nicht erst in unserer Zeit ein Thema. Wohl wurde es nicht derart diskutiert und strapaziert wie heute, aber unsere Vorgängergeneration muss ihr Gleichgewicht ebenso gesucht haben wie wir, auch wenn der Stress damals durch andere Auslöser entstanden sein mag. Ein großer Unterschied liegt jedoch in der veränderten Haltung der Unternehmen gegenüber ihren Angestellten, die nicht mehr als blosse Produktionsfaktoren, sondern als bedeutende Ressourcen für den Unternehmenserfolg betrachtet werden.
Was können die Arbeitgeber gerade in der Beratungsbranche tun, um zur Verbesserung der Work-Life-Balance ihrer Mitarbeiter beizutragen? Einerseits sind auf der Unternehmensebene konkrete Maßnahmen gefragt – es reicht nicht, diese lediglich schön formuliert im Leitbild zu verankern –, andererseits sind die Führungskräfte selbst gefordert. Die Menschen in Führungspositionen sollten dabei in ihrer eigenen Work-Life-Balance Vorbild sein und die Mitarbeiter so führen, dass sich diese ihr eigenes Gleichgewicht schaffen können. Dabei hilft es Vorgesetzten, Antennen dafür zu entwickeln, die Befindlichkeiten der einzelnen Menschen wahrzunehmen und feststellen zu können, ob sie mit ihrer aktuellen Situation zufrieden sind. Nicht selten tritt in einem informellen Gespräch die eine oder andere Schwierigkeit zutage, die vielleicht nur indirekt durch das konkrete Geschäftsumfeld verursacht wird, dieses jedoch maßgeblich beeinflusst. Auf persönlicher Ebene lassen sich die notwendigen Kenntnisse über die individuellen Umstände in Erfahrung bringen, Kenntnisse, die in den Entscheidungen betreffend Arbeitseinsatz, -ort und -zeitpunkt der jeweiligen Mitarbeiter berücksichtigt werden müssen. Hier zeigen sich immer wieder die Vorteile einer transparenten Kommunikation. Die Bereitschaft für ein Entgegenkommen im richtigen Moment kann starke Zeichen setzen, sofern diese Bereitschaft eine ehrliche ist.
Im Beratungsumfeld ist das ein sehr anspruchsvoller Prozess. Der Beratungsjob ist definitiv kein nine-to-five Job, die Arbeitsbelastung kann je nach Projektphase stark schwanken. Überdies stehen immer wieder Einsätze im Ausland oder Dienstreisen an. Es ist deshalb unabdingbar, bei der Teamzusammenstellung jeweils auch die persönliche Situation der einzelnen Mitarbeiter zu berücksichtigen.
Der Beraterberuf bietet den Mitarbeitern einen überdurchschnittlich großen Handlungsspielraum, sowohl bezüglich der Arbeitszeiten als auch der Möglichkeiten, Teile der Arbeit zu Hause zu erledigen. Der hohe Anteil an selbständigem Arbeiten erlaubt je nach Projekt und Kunde viel individuelles Handeln; es liegt an der Beraterin und am Berater selbst, sich die Zeit und das Pensum sinnvoll einzuteilen und sich gegen zu hohe Erwartungen abzugrenzen. Oft scheint es einfacher, 7x24 Stunden erreichbar zu sein, als einmal «Nein» zu sagen. Dabei erzeugt nicht allein der Kunde Druck, sondern ebenso die Konkurrenzsituation unter Arbeitskolleginnen und -kollegen, auch wenn alle wissen, dass lange Arbeitstage und hohe Präsenzzeit nicht zwingend gute Beratungsqualität bedeuten. Es ist deshalb von Bedeutung, dass die Führungspersonen diesbezüglich mit gutem Bespiel vorangehen und eine gewisse Abgrenzung selbst vorleben. Natürlich liegen die individuellen Bedürfnisse sehr weit auseinander und die Übergänge können fließend sein: Was für die einen «work» ist, ist für die anderen «life».
So, wie es in der Eigenverantwortung der Mitarbeiter liegt, die Freiräume, die sich ihnen bieten, zu nutzen, liegt es am Unternehmen, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen eine Work-Life-Balance überhaupt möglich ist. Ein auf rein quantitativen Kriterien basierendes Vergütungsmodell ist einer Work-Life-Balance nicht unbedingt zuträglich. Immer mehr Arbeitgeber in der Beratungsbranche haben daher in den letzten Jahren ihr Vergütungs- und Bonusmodell überarbeitet oder beabsichtigen dies in naher Zukunft zu tun. Bei den Mitarbeitern findet die Möglichkeit guten Anklang, einen Teil der fälligen Bonuszahlung in zusätzliche Ferientage umzuwandeln.
Der Beratungsberuf erfordert grosse Flexibilität, die oft mit substanziellen Entbehrungen verbunden ist. Der nicht lineare Verlauf eines Beraterjahres bietet jedoch auch den Vorteil, dass je nach Ansprüchen und Vorstellungen des Mitarbeiters und der Mitarbeiterin ein individuelles Modell angeboten werden kann. Flexible Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit für Mann und Frau, unbezahlter Urlaub, Ausgleich der Mehrarbeit in unterschiedlicher Form bis hin zur Gewährung eines Sabbaticals gehören heute zum Standardangebot eines modernen und mitarbeiterorientierten Beratungsunternehmens. Solche Modelle erfordern immer auch ein hohes Maß an Selbstdisziplin und müssen vom Umfeld der Mitarbeiter - Arbeitskollegen und -kolleginnen, Vorgesetzte, Kunden, Familie - akzeptiert werden.
Wie die einzelnen Mitarbeiter den ihnen zur Verfügung stehenden Zeitanteil für Familie und Freizeit optimal gestalten, liegt letztlich in ihrer ganz eigenen Verantwortung. Doch kann ein moderner Arbeitgeber auch hier wesentliche Beiträge leisten und Impulse zum Beispiel im sportlichen oder im kulturellen Bereich auslösen. Das kann ein aktives Vorgehen in der Gesundheitsvorsorge beinhalten – das Spektrum reicht vom periodischen Gesundheits-Check über die Beteiligung an den Kosten für den Besuch von Fitness Zentren bis hin zu Fachreferaten zu aktuellen Themen – oder organisierte Anlässe für die ganze Familie umfassen. Ein erfreulicher Trend lässt sich beispielsweise daraus ableiten, dass immer mehr Unternehmen an Firmenläufen oder anderen sportlichen Anlässen teilnehmen. Hier kann die Suche nach dem Gleichgewicht dazu führen, dass sich Teams besser kennen lernen und Netzwerke über Unternehmensgrenzen hinweg entstehen.
Ein weiterer Zusatznutzen darf hier nicht vernachlässigt werden: Ein Unternehmen, das sich auch von außen wahrnehmbar um die Belange seiner Mitarbeiter kümmert, kann sich Vorteile im Bereich der Reputation und Wahrnehmung im Arbeitsmarkt verschaffen.
3. Die Balance mit dem Kunden
Dennoch, auch wenn das Unternehmen noch so grosse Anstrengungen unternimmt, seinen Mitarbeitern eine ausgeglichene Bilanz zwischen Arbeit und Privatleben zu ermöglichen, und die Beraterinnen und Berater diese Möglichkeiten verantwortungsvoll und kundenorientiert wahrnehmen, so bleiben die Reibungspunkte zwischen den verschiedenen Bedürfnissen weiterhin bestehen. Beraterinnen und Berater müssen für ihren Kunden da sein, und zwar dann, wenn er sie braucht, und nicht dann, wenn es ihnen passt. Der Kunde erwartet persönliche Beratung und nicht ständig wechselnde Ansprechpartner. Deshalb ist eine sorgfältige und vorausschauende Planung nötig. Zum einen ist eine klare Absprache über Art und Umfang der Leistungserbringung gefragt, wobei Meilensteine und Pläne für alle Beteiligten verbindlich zu definieren sind. Zum andern müssen die Beraterinnen und Berater sowie deren Teams dafür sorgen, dass Auszeiten nicht nur zeitlich, sondern vor allem auch qualitativ überbrückt werden können. Dem Unternehmen bietet sich so die Chance, zu zeigen, dass sein Betrieb gut organisiert ist. Kann es nicht auf schwierige Situationen wie kurzfristige personelle Ausfälle reagieren, steht seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Der Kunde hat stets eine sehr hohe Erwartungshaltung an die Leistung der Beraterin oder des Beraters. Deren Persönlichkeit und Erfahrung entscheiden, wie sie sich dem Druck von Kunden sowie von Vorgesetzten stellen und wie hoch ihr Selbstbewusstsein ist, auch einmal «Nein» sagen zu können. Der Einfluss des Kunden auf die Work-Life-Balance kann sich positiv auswirken, wenn er Wertschätzung mit anerkennenden Worten oder Folgeprojekten äussert, aber auch negativ, wenn er derart Druck ausübt, dass sich die Beraterin oder der Berater der Aufgabe nicht mehr gewachsen fühlt. So kann es vorkommen, dass der Kunde insbesondere bei kurzfristigen Projekten oder bei kritischen Deadlines keinen Wert auf einen balancierten Berater oder eine balancierte Beraterin legt. Dann geht es um maximale Leistung und es sind diejenigen Berater und Beraterinnen gefragt, die sich voll und ganz sowie ungeachtet anderer Verpflichtungen ins Projekt stürzen, und die für die Dauer des Projekts in der Lage sind, ihre anderen Verpflichtungen hintenanzustellen.
Allerdings ist bei den Kunden das Verständnis für mitarbeiterfreundliche Entscheidungen seitens des Beratungsunternehmens gewachsen, nicht zuletzt deshalb, weil sie einen erkennbaren Nutzen davon haben: In ihren Projekten engagieren sich motivierte Beraterinnen und Berater, die kreative Ideen entwickeln und für Kontinuität sorgen, weil sie dank ihrer Zufriedenheit keinen Grund sehen, den Arbeitgeber zu wechseln. Der Kunde sieht zunehmend ein, dass ihm ein dauerhaft gestresster Berater kein reifer Gesprächspartner sein kann. Im Gegenteil: Die notwendige Balance sorgt dafür, dass die Beraterin und der Berater in der Lage sind, sich mit klarem Verstand und weitestgehend unbelastet den Anforderungen des Kunden zu stellen und sachliche, strukturierte Lösungen zu finden.
4. Die Balance zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Das Klischee, es gebe in der Unternehmensberatung keine Work-Life-Balance und keine Woche unter 60 Arbeitsstunden, existiert noch immer in einigen Köpfen. Zudem wird es immer wieder durch die Wirklichkeit genährt: Gerade junge Menschen in der Beratung erachten Work-Life-Balance oft als nicht so wichtig, wie allenfalls in einer späteren Karrierephase. Viele Mitarbeiter haben sich für den Schritt in die Beratung entschieden, weil sie sich in ihrem Job verwirklichen wollen, was sich selten mit einer 40 Stunden-Woche vereinbaren lässt. Möglicherweise ist auch einfach der Stellenwert des Berufs im Gesamtspektrum des Lebens bei jungen Beratern und Beraterinnen allgemein höher als bei Mitarbeitern, die nebenbei auch die Verantwortung für eine Familie tragen. Hier gehört es zur Verantwortung der Vorgesetzten, zumindest grob darüber informiert zu sein, wie viele ungenutzte Urlaubstage sich bei ihren Mitarbeitern anhäufen, und ob sie regelmässig am Wochenende und bis spät in die Nacht hinein arbeiten.
Es lohnt sich heute auch aus unternehmerischer Sicht, aktiv dafür zu sorgen, dass die Bedürfnisse des Unternehmens und seiner Angestellten in Einklang gebracht werden können. Work-Life-Balance muss ein dauerhaftes und ernsthaftes Thema sein und sollte letztlich dazu führen, dass im Job so viel Spaß und Erfüllung stecken, dass die Abgrenzung zwischen «work» und «life» nicht zur zwanghaften Übung verkommt, sondern die Souveränität ermöglicht, das Leben als Ganzes im Gleichgewicht zu halten. Der Beruf des Unternehmensberaters bietet grundsätzlich die Voraussetzungen dazu. Es liegt an den Führungskräften und an den Beraterinnen und Beratern selbst, ihre diesbezügliche Verantwortung wahrzunehmen.
Dieser Artikel ist erstmals erschienen als Buchbeitrag in Management Consulting – Perspektiven am Puls des Wandels, 2008, Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich, und wurde für das Handbuch der Unternehmensberatung aktualisiert.