Wer behandelt die meisten Patienten im Markt?
Der klassische Außendienst ist nach wie vor einer der wirkungsvollsten, aber auch teuersten Informationskanäle der Pharmaindustrie an die Ärzte. Eine wichtige Entscheidung besteht für Unternehmen deshalb darin, welche Ärzte der Außendienst kontaktiert. Pharmazeutische Unternehmen nutzen regionale Abrechnungsdaten ebenso wie arztbezogene Informationen aus eigenen Systemen, um das Verordnungspotenzial vorherzusagen und eine optimale Aufklärung der Ärzte über die Wirkungsweise der Medikamente zu gewährleisten. Hier hilft das klassische Rx-Volumen-Targeting weiter.
Die Frage, welche Zielkunden muss ich wie ansprechen, damit möglichst viele geeignete Patienten von einer (neuen) Therapie profitieren, ist der Kern jeden Targetings. Nicht erst seit Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie ist die ganzheitliche Betrachtung und Ansprache ihrer Zielkunden für pharmazeutische Unternehmen daher von essenzieller Bedeutung. Es gilt, die Healthcare Professionals (HCPs) auf die Weise anzusprechen, in der es für sie jeweils den größten Nutzen stiftet und hierfür verschiedene Kanäle aufeinander abzustimmen – dafür ist ein möglichst umfassendes Bild ihrer Situation, Besonderheiten, Bedürfnisse und Präferenzen wichtig (Abb. 1). Mit der Zusammenführung von Daten in einem multimodalen Targeting gelingt es, Zielgruppen zu segmentieren und individuell anzusprechen.
Das Spektrum an betrachteten Dimensionen hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich erweitert, was das klassische Rx-Volumen-Targeting fast in den Hintergrund hat treten lassen. Dabei bildet die Kernfrage – an welche Zielkunden trete ich prioritär heran – auch die Basis und führende Dimension eines ganzheitlichen Ansatzes. Das klassische volumenbasierte Targeting – die bestmögliche Identifizierung von Ärzten und Praxen mit dem größten Verordnungspotenzial und Patientenvolumen – liefert somit auch weiterhin die Grundlage einer zielgerichteten Kundensegmentierung, durch die der Außendienst die Zielärzte erreichen und jene mit einem hohen Potenzial besonders intensiv betreuen kann, um möglichst viele geeignete Patienten zu erreichen.
Solch ein therapiespezifisches Patientenpotenzial kann mit Hilfe von verschiedenen Datenquellen wie regionalen Verordnungsdaten von relevanten Produkten im Zielmarkt, Arzt- und Praxismerkmalen wie etwa der Fachgruppe sowie soziodemografischen Informationen ermittelt werden. Sie dienen als Basis für Künstliche Intelligenz (KI) / Machine Learning (ML)-Modelle oder andere statistische Verfahren, um das Patienten-Potenzial der Ärzte vorherzusagen. Die hinzugezogenen Daten und die Methodik variieren von Ansatz zu Ansatz, um Besonderheiten im Markt aufzugreifen und bestmögliche Ergebnisse zu erzielen. Anonymisierte Abrechnungsdaten wie beispielsweise die IQVIA Analytic Platform (Trustcenter) können zur Entwicklung eines Vorhersagemodells herangezogen werden und geben Auskunft über die Validität der Potenzialschätzungen.
Spezifische Targeting-Lösungen
Jede Targeting-Analyse sollte eine hochangepasste Lösung darstellen, die eine Vielzahl von Daten, Methodik und Expertise in den verschiedenen Indikationsgebieten und den entsprechenden Marktgegebenheiten vereint. Insbesondere die Phase der Projektvorbereitung ist somit ausschlaggebend für eine auf die Bedürfnisse des Unternehmens und der Zielindikation angepasste erfolgreiche Kundensegmentierung. Eingehende Analysen der wichtigsten Marktcharakteristika und eine enge Zusammenarbeit bei der Definition der Rahmenparameter legen dabei den Grundstein. Wo werden die für die Therapie geeigneten Patienten behandelt – beim Hausarzt oder Spezialisten, im Krankenhaus oder in der niedergelassenen Praxis? Gerade bei neuartigen Therapien ist häufig auch die Definition eines geeigneten Zielmarktes nicht trivial. Welche Produkte sind vergleichbar und decken relevante Verschreiber möglichst spezifisch und zugleich umfassend ab? Was können so genannte „Analog-Märkte“ sein, wenn es sich um eine Indikation handelt, für die es aktuell noch keine Therapie gibt?
Es gilt, diese Fragen vor jedem Targeting zu klären – sie bestimmen, welche Fachgruppe, welcher Sektor, welche Produkte ins Targeting einfließen und welche Methodik zur Anwendung kommt, um ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen.
Relevante Sektoren
Im deutschen Gesundheitssystem decken verschiedene Sektoren und Fachgruppen die Patientenversorgung ab. Neben der breiten Grundversorgung über niedergelassene Hausärzte und der stationären Behandlung im Krankenhaus spielen in vielen Bereichen niedergelassene Fachärzte und Klinikambulanzen eine tragende Rolle. Die Einrichtung der Klinikambulanzen ermöglicht Klinikärzten die ambulante Behandlung und Verschreibung von Medikamenten, bei gleichzeitiger Nutzung der Krankenhausinfrastruktur. Viele dieser Ambulanzen bieten daher eine spezialisierte Versorgung seltener/komplexer Erkrankungen im Bereich der Klinikschwerpunkte an, wie beispielsweise Krebserkrankungen, Schuppenflechte, oder chronisch entzündliche Darmerkrankungen.
In den letzten Jahren nehmen Launches in sogenannten Spezialmärkten stark zu. Dabei handelt es sich beispielsweise um Produkte für seltene Erkrankungen, personalisierte Medikamente, die auf die Charakteristika der Patienten angepasst sind oder neue Darreichungsformen, die eine längere und zielgerichtetere Behandlung der Krankheit ermöglichen. Gerade in diesen Spezialmärkten haben die verschiedenen Sektoren oft eine sehr unterschiedliche Bedeutung.
IQVIA erstellt daher in einem ersten Schritt – mit Hilfe der Kombination verschiedener Marktdaten – einen Sektoren- und Fachgruppensplit der relevanten Indikation. Diese dienen als Grundlage für die Entscheidung, für welchen Sektor eine Zielgruppenanalyse besonders relevant ist (Abb. 2). Für die relevanten Sektoren und Fachgruppen kommen dann unterschiedliche Analyseverfahren zum Einsatz, welche die jeweils spezifischen Daten und Besonderheiten der Bereiche berücksichtigen. Die Verteilung des Potenzials kann außerdem Aufschluss über den richtigen „Mix“ geben – wie der Fokus des Außendienstes auf die einzelnen Sektoren / Fachgruppen verteilt werden sollte.
Definition des Zielmarktes
Die zentrale Grundlage für jedes Targeting ist die Definition eines passenden Marktes. Welche Produkte können das Potenzial der Zielindikation am besten darstellen beziehungsweise simulieren? Dies gestaltet sich einfach, wenn allein die Verschreiber eines etablierten Produktes gesucht sind. Sollen aber auch potenziell in Frage kommende Ärzte ermittelt werden, muss die Auswahl um geeignete Substanzen erweitert werden. Eine besondere Herausforderung stellen dabei neuartige, innovative Therapien dar, für die es unter Umständen noch keine entsprechenden Produkte gibt. Hier individuell angepasste Lösungen zu finden, erfordert umfassendes therapeutisches Fachwissen und Erfahrung. Immer mehr Substanzen zeichnen sich außerdem durch Zulassung und Anwendung für verschiedene Indikationen aus (Multi-Indication Use). Auch dies gilt es bei der Beurteilung von Substanzen zu berücksichtigen, um eine saubere, indikationsspezifische Auswahl zu treffen, die aber gleichzeitig genügend Breite und Tiefe aufweist und somit möglichst viele Patienten abdeckt.
Beispielsweise haben viele Chemotherapien eine breite Patientenbasis, sind aber gleichzeitig für viele verschiedene Krebsarten indiziert und werden entsprechend eingesetzt. Um die behandelnden Ärzte einer bestimmten Krebsart zu identifizieren, sind daher oft spezifische Präparate diesen Breitband-Therapeutika vorzuziehen, obwohl damit nicht alle Patienten abgedeckt werden. Die Nutzung der breit eingesetzten Chemotherapien würde dagegen zu viele Ärzte identifizieren, für die die neue Therapie nicht relevant ist, da sie ausschließlich andere Krebsarten behandeln. Somit ist ein tiefes, indikationsspezifisches Expertenwissen nötig, um eine saubere Definition des Zielmarktes zu entwickeln.
Dieses therapeutische Fachwissen ist auch für die Berechnung von Patienten-Therapietagen (Days of Treatment) unerlässlich. Diese sind Umsatz oder Absatz als Potenzialkriterium in Targeting-Analysen vorzuziehen, da sie der Versorgungsrealität entsprechen und den Patienten als Referenz in den Vordergrund stellen.
Nach der Priorisierung der Sektoren und der Definition des Zielmarkts stellt sich die Frage, welche Charakteristika dieser Markt aufweist. Zeichnet sich der Markt durch eine große und breite Verschreiberbasis aus (sogenannte Primary Care-Märkte)? Oder behandeln nur sehr ausgewählte Spezialisten / Zentren die definierten Medikamente? Beziehungsweise ist die Patientenpopulation so gering, dass diese von nur wenigen Ärzten betreut werden (sogenannte Spezialmärkte)? Klassische Beispiele für Primary Care-Märkte sind Diabetes, Asthma / COPD, aber auch Multiple Sklerose oder Neurodermitis. Onkologie oder immunologische Erkrankungen hingegen fallen meist in den Bereich der Spezialmärkte. Diese Unterscheidung kann sich jedoch auch innerhalb einer Indikation ändern, basierend auf der gewählten Marktdefinition. Der bereits erwähnte Fall der breit eingesetzten Chemo- oder Hormontherapien in der Krebsbehandlung versus spezifische Präparate zur gezielten Behandlung des Tumors kann auch hier als Verdeutlichung dienen. Um den Marktcharakteristika optimal gerecht zu werden, unterscheiden sich auch die entsprechenden Targeting-Ansätze (Abb. 3).
Daten, Methodik, Targeting-Modellierung
Die Marktcharakteristika und die definierten Rahmenparameter bestimmen schließlich die Methodik der Targeting-Analyse und welche Daten in die Modellierung einfließen. Eine breite Auswahl an Daten aus verschiedenen Quellen unterstützt eine möglichst umfassende Analyse des Zielmarktes und der potenziellen Verschreiber.
Regionale Umsatzdaten und Paneldaten geben, unter Einhaltung deutscher Datenschutzregeln, Auskunft über Verordnungsverhalten und regionale Besonderheiten und sind als Grundlage für ein Potenzial-Targeting oft unerlässlich. Zusätzlich herangezogene Informationen schließen neben soziodemografischen Praxisumfeldinformationen auch Merkmale mit ein, die den Arzt charakterisieren. Neben klassischer Desk Research kommen hier zielgerichtete Marktforschung oder beispielsweise ein Screening der Praxishomepages zum Einsatz. Ebenso können Attribute über den Außendienst erhoben oder aus den jeweiligen CRM-Systemen (Customer Relationship Management) extrahiert werden.
Die möglichst breit und umfassend erhobenen Daten fließen nun in ihrer Gesamtheit in Targeting-Modelle ein, die eine Schätzung des Verordnerpotenzials ermöglichen. Neben klassischen Regressions- und Korrelationsanalysen kommen hier auch moderne statistische Methoden (inkl. KI / ML) oder Scoring-Lösungen zum Einsatz. Jedes Targeting beziehungsweise jeder Markt, jede Indikation hat besondere Herausforderungen, die es durch die Wahl der passenden Methodik optimal zu adressieren gilt.
Im nächsten Schritt werden die Modelle individuell dem Projekt angepasst, um die Güte der daraus resultierenden Potenzialschätzungen zu optimieren. Idealerweise, aber nicht immer verfügbar, stützt sich die Optimierung der Modelle auf anonymisierte Abrechnungsdaten (Trust Center) wie beispielsweise die IQVIA Analytic Platform. Die Plattform kann für die datenschutzkonforme und anonymisierte Modellierung und Validierung des Verordnungspotenzials herangezogen werden. So können verschiedene Güteklassen berechnet werden, wie etwa, wie viele Ärzte das Modell fälschlicherweise als Top-Kunden identifiziert hat (falsch positiv) oder wie viele Top-Kunden das Modell übersehen hat (falsch negativ). Nach der Rückmeldung zur Güte des Targetings wird die Schätzung in iterativen Schleifen optimiert. Regionale Umsatzdaten helfen darüber hinaus, die Schätzungen der Ärzte bezüglich regionaler Unterschiede anzupassen und erhöhen somit die Güte des Modells. Gerade in den sogenannten Spezialmärkten findet am Ende der Modellierung auch immer noch einmal eine manuelle Recherche / Anpassung der Top-Kunden statt, basierend auf der jahrelangen Erfahrung der Mitarbeiter.
In jedes Targeting fließt somit immer ein hohes Maß an analytischem Know-how, Erfahrungswerten und therapeutischem Fachwissen ein. Der Vergleich mit zahlreichen vorangegangenen Projekten und die Validierung über die Analytic Platform erlaubt darüber hinaus ein valides Benchmarking der Targeting-Güte.
Segmentierung der Zielkunden
Für die Implementierung des Targetings schließlich gilt es, die Zielgruppe basierend auf den Potenzialschätzungen des besten Modells in Segmente einzuteilen (zum Beispiel A, B, C und D). Diese Klassifizierung sollte in enger Abstimmung mit dem pharmazeutischen Unternehmen dynamisch erfolgen, um auf die individuellen Anforderungen eingehen zu können.
Dabei ist eine Flexibilität bezüglich der Anzahl der möglichen Zielkundensegmente ein entscheidender Erfolgsfaktor für die Marktbearbeitung. Neben der klassischen ABCD-Segmentierung für den Außendienst gewinnen feingranulare Klassifizierungen an Bedeutung. Zum einen arbeiten auch andere Abteilungen, wie das Marketing, zunehmend mit den Ergebnissen, um Mailings oder andere Maßnahmen zu planen. Zum anderen bedarf etwa der Einsatz unterschiedlicher Kommunikationskanäle (Omnichannel) einer großen Flexibilität bei der Anzahl der Segmente.
Wie einleitend angesprochen, sollte die Klassifikation der Ärzte gemäß dem Potenzial als Basisdimension einer ganzheitlichen Segmentierung der Zielkunden dienen. Für eine individualisierte Ansprache und Einbindung der Healthcare Professionals aber, und um die richtige Therapie zum Patienten zu bringen, bedarf es der Integration weiterer Dimensionen wie etwa digitaler Präsenz. Auch dafür ist eine möglichst feingranulare Einteilung der Potenzialdimension wichtig, um sie zielgerichtet mit anderen Informationen zu verbinden.
Diese kundenspezifische Klassifizierung kann dem Außendienst zum einen helfen, die relevanten Kunden zu kontaktieren; darüber hinaus liefert sie dem Management eine Diskussionsbasis für Ressourcenallokation im Außendienst und erste Optimierungshinweise im Außendienstgebietsdesign. So kann anhand der Arztklasse und der Verordnerkonzentration der Einfluss unterschiedlicher Marktabdeckungen auf den Ertrag berechnet werden. Aber auch die geografische Verteilung des Potenzials und der Abgleich mit der aktuellen Gebietsstruktur zeigen Möglichkeiten auf, Arbeitslast und Marktpotenzial in ein Gleichgewicht zu bringen.
Fazit
Jedes klassische Potenzial-Targeting vereint somit idealerweise eine Fülle an Informationen, Daten, Therapiewissen und Erfahrungen zu einer individuellen, kundenspezifischen Lösung. Diese betrachtet je nach Indikation verschiedene Sektoren und Fachgruppen, basiert auf therapeutischem Fachwissen und analytischem Know-how für eine dem Markt angepasste Analysemethodik und ermöglicht im Anschluss flexible granulare Kundenklassen.
Trotz andauernder Veränderungen im Gesundheitsmarkt bleibt das volumetrische Rx-Targeting weiterhin der Basisbaustein der Kundensegmentierung pharmazeutischer Unternehmen. Für ein umfassendes Bild und um den dynamischen Bedarf der Zielkunden auch zukünftig zu bedienen, sollte die Rx-Basis Teil eines ganzheitlichen Targeting-Konzepts sein. Zusätzliche Informationen wie digitale Präsenz, Bedeutung für Patienten-Neueinstellungen oder Innovatoren-Status ermöglichen eine mehrdimensionale Segmentierung der Ärzte. Auch hier gilt es, aus der Fülle an Informationen, die relevanten Daten herauszufiltern, zu kombinieren und maßgeschneidert zu verwenden – idealerweise alles aus einer Hand und somit optimal aufeinander abgestimmt. Der nächste Beitrag dieser Reihe beleuchtet im Detail die Dimension der Omnichannel-Affinität der HCPs und die Präferenzen bei deren Ansprache.
Dieser ganzheitliche Blick auf die Zielkunden eröffnet pharmazeutischen Unternehmen schließlich eine passgenaue Informationsversorgung der Ärzte und damit neue Chancen, ihre Produkte noch besser zu den Patienten zu bringen, die am meisten davon profitieren.