Weht in der Politik ein anderer "Wind of Change"? - Wie sich eine Partei verändert
Die FDP hat sich erfolgreich neu aufgestellt. Wie läuft der Change-Prozess in der Partei ab und wie unterscheidet er sich von Change-Prozessen in Unternehmen? Darüber und über die "Lessons Learned" sprach BDU-Vizepräsident Ralf Strehlau mit Parteichef Christian Lindner.
Ralf Strehlau: Veränderungsprozesse laufen nicht zufällig ab, sondern sind ein gezielter Prozess. Wie ist das bei der FDP gewesen? Haben Sie einen Masterplan für den Veränderungsprozess?
Christian Lindner: Ja, wir haben einen Masterplan unmittelbar nach der Niederlage bei der Bundestagswahl 2013 entwickelt. Die erste Phase beschäftigte sich mit der Ursachenanalyse und der Herausbildung eines neuen Leitbildes, also der Stärkung der eigenen Identität. Die zweite Phase war, die eigene Anhängerschaft – also insbesondere die über 53.000 Mitglieder – zunächst einmal für diese Identität zu gewinnen, sie dafür zu begeistern. Und in der dritten Phase stand und steht unverändert im Zentrum das neue, liberale Parteiprofil nach außen zu tragen. Dabei haben wir uns nicht mit der Frage beschäftigt, wie wir in den nächsten Bundestag kommen, sondern warum wir in den Bundestag kommen wollen. Das heißt, wir haben nicht mit der Wie-Frage, sondern mit der Warum-Frage die Identität der FDP neu gestaltet.
Strehlau: Wenn man so einen Veränderungsprozess anstößt, gibt es zwei Strategien: evolutionär oder revolutionär? Sie haben eben den Prozess kurz dargestellt. Welchen Ansatz, würden Sie sagen, haben Sie gewählt?
Lindner: Das ist nicht leicht zu beantworten, weil eine gewisse Paradoxie darin liegt. Es ist durchaus ein revolutionärer Ansatz, weil sich die FDP politisch und personell fundamental erneuert hat. Aber hinsichtlich ihres Profils ist die FDP nicht revolutionär, sondern eher wieder „back to the roots“ zum klassischen liberalen Profil gegangen, das heißt Kontinuität. Also organisationspolitisch revolutionär, inhaltlich evolutionär.
Strehlau: Sie haben in der Organisation, das heißt bei den Mitarbeitern und Mandatsträgern, viel verändert – so verstehe ich das. Wer sind die Verlierer bei Ihnen, wer die Gewinner und wie wurde mit den Verlierern umgegangen?
Lindner: Die frühere Führung und die Spitzenkräfte der FDP sind nicht von uns, sondern von den Wählerinnen und Wählern aus den Ämtern abberufen worden. Insofern haben wir selbst nichts unternehmen müssen. Wir betrachten uns als eine Mannschaft und auch diejenigen, die heute nicht mehr führende Verantwortung tragen, sind noch unverändert in der Partei aufgehoben. Da gibt es keine Abrechnung. Wir haben das Scheitern der FDP nicht an irgendeiner Stelle persönlich verorten müssen. Das hätte nur zu Verletzungen geführt und das bringt am Ende nichts. Nicht einige wenige, sondern im Grunde alle haben Verantwortung übernommen für die Lage der Partei nach der letzten Wahl.
Strehlau: Sie haben versucht zu verhindern, dass sich Mitglieder/Kollegen als Verlierer gefühlt haben?
Lindner: Wenn jemand seine Führungsaufgabe verliert oder sein öffentliches Amt, dann spricht das für sich. Die Parteiführung hat ihre Legitimation mit der Wahlniederlage von den Wählerinnen und Wählern entzogen bekommen. Sie haben der FDP damit einen Erneuerungsauftrag erteilt. Und dem sind wir nachgekommen. Aber wir mussten nicht zusätzlich noch persönlich abrechnen oder vom Platz stellen – das wäre auch unangemessen gewesen. Man muss Tatsachen anerkennen. Da ist eine Partei möglicherweise doch etwas anders als ein Unternehmen aufgestellt.
Strehlau: Ich kann Ihnen sagen, da haben Sie Glück. Wenn man sich, legitimiert durch einen Dritten, von Führungskräften trennen kann, ist das etwas anderes, als wenn Sie sich hinstellen müssen als Chef einer Partei oder Organisation und sagen „Hey, Du musst raus“. Das führt zu ganz anderen Emotionen.
Lindner: Wir konnten unsere Führung neu wählen bzw. die Partei konnte sie neu bestimmen, da die alte komplett abgetreten war. Und zwar in einer radikalen Art und Weise, da natürlich auch die berufsmäßig politisch Engagierten in der Bundestagsfraktion in ein Ehrenamt wechseln mussten. Das war fundamental neu und insofern – da Sie eben von Evolution und Revolution gesprochen haben – in Wahrheit eine Disruption.
Strehlau: Von außen ausgelöst im Grunde genommen.
Lindner: Ja, genau. Wie ein externer Schock.
Strehlau: Wenn ich so eine Agenda bzw. einen Masterplan habe, muss man sich überlegen, wie messe ich den Fortschritt, damit Sie als Parteichef sagen können „Wir sind auf dem richtigen Weg“.
Lindner: Da gibt es einen offensichtlichen Indikator und der heißt Marktanteil. Für uns sind das Wahlerfolge, und es gibt einen zweiten, einen internen, organisationspolitischen, das ist die Entwicklung der Mitgliederzahl und einen dritten, was die Legitimation angeht, parteiinterne Wahl- und Abstimmungsergebnisse. Bei allen drei Indikatoren zeigt sich, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Dass wir im März dieses Jahres auch eine Trendwende erreicht haben, mit fünf Landtagswahlen in Folge, bei denen wir zum Teil sehr deutlich zugelegt haben. Zudem der Wiedereintritt in Regierungsverantwortung in Rheinland-Pfalz. Meine Hauptsorge in der Phase, in der wir sind, ist, dass die sich jetzt einstellenden Erfolge dazu führen, dass zu früh geglaubt wird, der Change-Prozess sei erfolgreich abgeschlossen und dass sich alte Gewohnheiten wieder einschleichen könnten. Dass der Wille und die Bereitschaft, noch weiter zu gehen in der Erneuerung, zurückgehen könnte. Es ist Aufgabe der Führung, die Partei neugierig, hungrig, beweglich zu halten. Denn nach meiner festen Überzeugung ist der größte Teil des Erneuerungsprozesses noch nicht abgeschlossen, der liegt noch vor uns.
Strehlau: Es ist kein 100-Meter-Lauf, das haben Sie gesagt, es ist ein Marathonlauf, den Sie vor sich hatten und haben. Wie viel Prozent auf der Wegstrecke haben Sie zurückgelegt?
Lindner: Die Frage ist, was ist das Ziel? Wenn das Ziel Wiedereintritt in den Deutschen Bundestag heißt, dann glaube ich, haben wir rein zeitlich schon mehr als die Hälfte geschafft. Die Legislaturperiode ist in ihrem letzten Drittel angekommen. Aber was die FDP und ihre Erneuerung angeht, will ich unsere Partei darauf einstimmen, dass es einen fortwährenden Veränderungsprozess geben muss, der nie abgeschlossen ist. Die Bundestagswahl 2017 wird ein wichtiger Schritt sein, weil sich dann der Charakter unserer Arbeit wieder verändert, also wieder mehr medialer Zugang, wieder Einflussnahme, andere Möglichkeit, im politischen Tagesgeschäft Substanz zu entwickeln und zu zeigen. Aber abgeschlossen werden soll dieser Prozess gar nicht mehr. Ich wünsche mir, dass die FDP dauerhaft einen Laborcharakter behält für gesellschaftlichen Fortschritt, für Veränderungen und dass wir den Anspruch markieren, politisch programmatisch Avantgarde zu sein für bestimmte Veränderungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft. Und dann muss man selbst auch ständig veränderungsbereit, offen sein und kontinuierlich an sich arbeiten.
Strehlau: Veränderung also praktisch als kultureller Bestandteil der FDP?
Lindner: Ja, so ist es. Das mach ich mir zu eigen.
Strehlau: In der Wirtschaft würde man fragen, ob es für so ein Veränderungsprogramm, Initiative oder ein Projekt eine spezielle Projektstruktur gibt, außerhalb der normalen Unternehmensorganisation bzw. außerhalb der normalen Organe der Partei?
Lindner: Wir haben die Parteiführung, sprich das Präsidium und dort einen geschäftsführenden Bereich, also Vorsitzender, Generalsekretärin, Schatzmeister, Bundesgeschäftsführer. Das ist das strategisch-organisatorische Zentrum innerhalb des Präsidiums und von dort steuern wir diesen Prozess.
Strehlau: Also aus der normalen Aufbauorganisation heraus, würde man im Unternehmen sagen?
Lindner: Wir haben projektbezogen in bestimmten Phasen Teams gebildet, die unabhängig waren von der normalen Aufbauorganisation. Das war erstens in der Analysephase unter Einbeziehung eines externen Beraters eine Gruppe, die die Ausgangslage dargestellt hat. Deshalb mit einem externen Berater, weil wir, wie ich eben schon gesagt habe, keine Abrechnung mit früheren Spitzenrepräsentanten wollten. Und dann kann man mögliche Analysen, die vielleicht nachteilig sind, besser von Dritten vortragen lassen, weil dann der Verdacht einer persönlichen Abrechnung gar nicht erst auftreten kann. Wir haben zum zweiten ein Team mit unseren Kommunikatoren von außen, also der Kommunikationsagentur, die den Außenauftritt für die FDP gestaltet. Und zum dritten, für die Phase der Leitbilddebatte mit den 53.000 Mitgliedern, haben wir eine neue Struktur gebildet, teils zeitlich befristet. Sogenannte Leitbild-Botschafter, die nicht zwingend gewählte Repräsentanten von Spitzengremien sein mussten, die sich aber in einem unterschieden haben: Sie mussten eine formale Qualifikation, nämlich eine Leitbild-Botschafterschulung absolvieren. Das gab und gibt es bei einer demokratischen Partei im ehrenamtlichen Bereich ansonsten natürlich nicht. Da gilt das Demokratieprinzip, wer also eine Mehrheit auf sich vereinigt, hat ein Amt oder eine Aufgabe. Hier haben wir ein Qualifikationsmerkmal für die Botschaft des Leitbildes hinzugefügt.
Strehlau: Herr Lindner, wurden die Mitglieder in der Breite in den Veränderungsprozess eingebunden? Im Unternehmen ist es wichtig, alle Mitarbeiter einzubinden und nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Lindner: Unterstützt durch diese Leitbild-Botschafter haben wir in 300 Veranstaltungen mit über 15.000 aktiven Teilnehmern über das Leitbild gesprochen und haben es auch in einem interaktiven Prozess weiterentwickelt. Neben den Präsenzveranstaltungen gab es zweimal Mitgliederbefragungen mit einer hohen Responsequote von über 40 Prozent, um gleichzeitig die Akzeptanz des Leitbildes als auch die inhaltliche Trennschärfe zu optimieren.
Strehlau: Neben der Einbindung der Mitarbeiter als Erfolgsfaktor für Veränderungen gelten als weitere Erfolgsfaktoren Leuchtturmprojekte, die eine hohe Strahlkraft haben. Was waren die Leuchtturmprojekte bei der FDP?
Lindner: Das erste und wichtigste Leuchtturmprojekt war die Wahlkampfphase Anfang 2015, der Relaunch des neuen Profils der FDP. Ich meine damit die inhaltliche Positionierung, also nicht das Design, sondern inhaltliche Schwerpunkte: Bildung nach vorn inklusive Reform des Bildungsföderalismus und eine höhere Dosis Liberalität auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht. Ausgespielt haben wir das bei den Wahlen in Hamburg und Bremen, die sozusagen „proof of concept“ waren. Sie haben die Gesamtpartei mobilisiert, die in vielfältiger Weise in diese Wahlkämpfe eingegriffen hat. Die nächsten Leuchtturmprojekte waren dann die Wahlen dieses Frühjahr und auch die nächsten Landtagswahlen betrachten wir für die gesamte Partei als „Milestone“, an dem sie sich orientiert, wo man sowohl die Kampagnenführung als auch die Art und Weise der Ansprache von Themen wie auch die Themen selbst für die Partei repräsentativ neu arrangiert.
Strehlau: Das heißt, diese Leuchtturmprojekte, diese nächsten Wahlen sind dann die wichtigsten nächsten Schritte im Veränderungsprozess oder sind da noch weitere Elemente?
Lindner: Ja, das sind die nächsten Schritte und zugleich die wichtigsten.
Strehlau: Noch zwei Fragen von meiner Seite: Wenn Sie zurückschauen: was haben Sie in den bisherigen Veränderungsprozessen rückwirkend betrachtet persönlich gelernt? Was würden Sie beim nächsten Mal anders machen?
Lindner: Ich überlege, was ich anders machen würde. Man lernt natürlich auch eine Menge über die eigene Organisation. Ich würde das Tempo zu Beginn noch ein Stück erhöhen und wäre noch mutiger, Veränderungen tiefgreifender Art rasch anzugehen. Da haben wir uns etwas Zeit gelassen, was mit dem Europawahlkampf zusammenhing. Bestimmte Fragen aber würde ich schneller angehen. Denn die Bereitschaft zur Veränderung im eigenen Laden war größer als zu Beginn vermutet.
Strehlau: Bei den Veränderungsprozessen, die ich geleitet habe, habe ich ebenfalls die Erfahrung gemacht, dass man schneller vorangehen kann, als ursprünglich gedacht. Ich würde das unterschreiben. Was würden Sie aus ihren eigenen Erfahrungen anderen Unternehmen oder Organisationen empfehlen für Ihre Veränderungsprozesse?
Lindner: Immer mit dem Warum beginnen, niemals mit dem Wie. Klärung der eigenen Identität – warum gibt es uns? Warum bin ich hier? Warum würde der politischen Landschaft etwas fehlen ohne uns? Also mit der Klärung der eigenen Identität beginnen, und von dort aus alles andere konstruieren.
Strehlau: Das kann ich nachvollziehen und unterschreibe ich 100-prozentig. Hätten Sie eine Empfehlung für einen Berater, der eine Partei oder ein Unternehmen begleitet, aus Kundensicht sozusagen?
Lindner: Ja, mit dem Ziel und den Inhalten zu starten und nicht mit dem Prozess und den Zwischenzielen zu beginnen. Natürlich ist es für eine Partei enorm wichtig, dass sie wieder im Bundestag vertreten ist. Aber wenn man mit dem Ziel beginnt, wieder Mandate haben zu wollen, oder man könnte auch sagen Marktanteile oder Zuspruch, und überlegt, was muss man tun, um das zu erreichen, glaube ich, denkt man zu kurzfristig und zu klein. Gleichzeitig unterschätzt man damit auch die Möglichkeiten, die im grundlegenderen Herangehen liegen. Die Warum-Frage war für mich persönlich das Wichtigste und ich bin froh, dass ich diesen Punkt als Vorsitzender der Partei, sozusagen als Change-Manager, dass ich den ganz zu Beginn bereits im Dezember 2013 gesetzt habe.
Strehlau: Es gibt den schönen Spruch: „Die Substanz entscheidet“. Wenn die Substanz nicht da ist, wird der Veränderungsprozess nicht erfolgreich, sondern eine leere Hülle sein. Sprechen wir einmal das Thema Politikverdrossenheit an, wie zum Beispiel in Österreich. Kann man dann sagen, wenn die Substanz nicht da ist, dann leistet man der reinen Agitation Vorschub?
Lindner: Ja, so ist es.
Strehlau: Herr Lindner, vielen herzlichen Dank für dieses Interview!