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Pflicht zur Arbeitszeiterfassung: Auswirkungen auf die Consultingbranche

Dr. Timo Karsten, Rechtsanwalt und Partner bei Osborne Clarke Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, gibt einen Überblick zu den Auswirkungen der Rechtspflicht zur Arbeitszeiterfassung auf die Consultingbranche.

Das Bundesarbeitsgericht hat in seiner Entscheidung vom 13. September 2022 (1 ABR 22/21) die aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) folgende Pflicht zur Arbeitszeiterfassung festgestellt.
Die Consultingbranche ist in besonderem Maße von den Folgen dieser BAG-Entscheidung betroffen. Berater müssen zeitlich flexibel agieren und erbringen ihre Leistung häufig im Rahmen von Projekten fristgebunden und unter terminlichem Druck. Die Beratungsleistung wird auch häufig außerhalb der eigenen Betriebsstätte beim Kunden erbracht und ist entsprechend mit Reisen verbunden.

 

Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit seiner Entscheidung einer EuGH-Entscheidung vom 14. Mai 2019 – C-55/18 zur unmittelbaren Geltung verholfen. Der EuGH hatte bereits im Jahr 2019 entschieden, dass die Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) nur dann ihre volle Wirksamkeit entfalten kann, wenn der Arbeitgeber verpflichtet ist, zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Nur so kann sichergestellt werden, dass die europäischen Vorgaben einer Obergrenze von 48 Stunden Arbeitszeit pro Arbeitswoche und eine kontinuierliche Ruhezeit von 11 Stunden im Anschluss an den Arbeitstag eingehalten werden. Der deutsche Gesetzgeber ging davon aus, dass dieser Entscheidung des EuGH keine unmittelbare Wirkung zukomme und es zunächst einer Änderung des nationalen Arbeitszeitgesetzes bedürfe, um die privaten Arbeitgeber entsprechend der Vorgabe des EuGH zur Arbeitszeiterfassung zu verpflichten. Eine solche gesetzliche Umsetzung erfolgte jedoch nicht. Das BAG hat jedoch entschieden, dass diese Pflicht bei unionsrechtskonformer Auslegung bereits jetzt aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG, der Rahmenvorschrift des Arbeitsschutzgesetzes, folgt. Das BAG hat damit unmittelbar alle Arbeitgeber in Deutschland zum Handeln verpflichtet.
Gemäß § 3 ArbSchG müssen Arbeitgeber unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeit und der Zahl der Beschäftigten den Arbeitsschutz durch eine geeignete Organisation und die Bereitstellung der erforderlichen Mittel sicherzustellen. Nach Auffassung des BAG folgt daraus die grundsätzliche Verpflichtung aller Arbeitgeber, ein System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit einzuführen, das Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeit einschließlich der Überstunden erfasst. Die Arbeitszeiterfassung ist also nicht eine mögliche Arbeitsschutzmaßnahme, die nach einer konkreten Gefährdungsbeurteilung gemäß § 5 ArbSchG des Arbeitsbereichs als probates Mittel zur Sicherstellung des Gesundheitsschutzes zu ergreifen sein kann, sondern eine grundsätzliche Verpflichtung.

 

Ausgenommene Arbeitnehmergruppen

Das BAG nimmt in seiner Entscheidungsbegründung ausdrücklich leitende Angestellte im Sinne des § 5 Abs. 3 BetrVG von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung aus.
Von der grundsätzlich postulierten Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung gibt es folgende Ausnahmen: Zunächst sind alle im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer im Sinne des § 5 Abs.1 Satz 1 BetrVG erfasst. Die EU-Arbeitszeitrichtline, lässt es aber auch zu, dass die nationalen Gesetzgeber für einzelne Arbeitnehmergruppen abweichende Regelungen treffen, wenn die Dauer ihrer Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann. Der deutsche Gesetzgeber hat diesbezüglich in den §§ 18 bis 21 ArbZG Regelungen nicht nur für leitende Angestellte, sondern auch für Chefärzte sowie Beschäftigte im öffentlichen Dienst, Luftfahrt und Binnenschifffahrt getroffen. Sofern es sich bei Mitarbeitern der Consultingbranche jedoch nicht um leitende Mitarbeiter handelt, fallen sie nicht unter diese Ausnahme.

 

Leitlinien des BAG zur Umsetzung der Verpflichtung

Das BAG setzt in Ermangelung konkretisierender Regelungen des Gesetzgebers für die Arbeitszeiterfassung folgenden Rahmen:

  • Es reicht nicht aus, dass den Arbeitnehmern nur ein System zur Erfassung der Arbeitszeit zur Verfügung gestellt wird. Der Arbeitgeber muss die Daten zur Arbeitszeit auch tatsächlich hiermit erfassen und aufzeichnen und den Behörden bei einer Kontrolle zur Verfügung stellen können.
  • Anhand der zu erfassenden Daten muss sich die Lage der Arbeitszeit und die Einhaltung der täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeiten überprüfen lassen.
  • Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung kann auf den einzelnen Arbeitnehmer delegiert werden.
  • Die Arbeitszeiterfassung muss nicht ausnahmslos und zwingend elektronisch erfolgen. Auch Aufzeichnungen in Papierform können, insbesondere unter Berücksichtigung der Unternehmensgröße, genügen.

 

Auftrag an den Gesetzgeber – Mögliche Freiräume für die Consultingbranche?

Die vom BAG als Grundsatz aufgestellte Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung lässt es leider nicht zu, dass im Rahmen der nach dem Arbeitsschutzgesetz durchzuführenden konkreten Gefährdungsbeurteilung für einzelne Bereiche festgestellt wird, dass eine Arbeitszeiterfassung zur Reduzierung der ermittelten Gefährdungen als Arbeitsschutzmaßnahme entbehrlich ist.

Das BAG macht aber deutlich, dass der deutsche Gesetzgeber in Ausnutzung der Spielräume der Arbeitszeitrichtlinie bei einer Novellierung des Arbeitszeitgesetzes ggf. auch weitere Ausnahmen schaffen und somit weitere Berufsgruppen von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ausnehmen kann.


Der BDU regt im Rahmen der Novellierung des Arbeitszeitgesetzes an, dass „das Arbeitszeitgesetz auch für diejenigen Arbeitnehmer nicht gilt, denen eine maßgebliche selbständige Entscheidungsbefugnis übertragen ist und deren gesamte Arbeitszeit auf Grund der besonderen Merkmale der Tätigkeit hinsichtlich Lage und Dauer selbst festgelegt werden kann, wie es im Bereich der Wissens- und Projektarbeit häufig der Fall ist.“ Außerdem macht BDU-Geschäftsführer und Rechtsanwalt Kai Haake deutlich: „Beim Thema gesetzliche Regulierung der Arbeitszeit spielen viele Akteure mit, von den Tarifpartnern über die Wissenschaft, der EU bis zu den verschiedenen Koalitionspartnern. Der BDU ist aber im sehr engen Austausch mit der Politik und anderen Verbänden. Kernziel: Möglichst viel Vertrauensarbeitszeit für unsere Branche.“

Auch schlägt der BDU vor, dass statt der Messung der Tageshöchstarbeitszeit von maximal 10 Stunden auf die der Wochenarbeitszeit umgestellt wird: „Das Entkoppeln vom Tagwerk auf einen größeren Bezugszeitraum ermöglicht flexibleres Arbeiten, das stärkere Ausrichten auf persönliche, aber auch betriebliche Umstände. Das wäre auch ein Beitrag zu einem arbeitnehmerfreundlicheren Freizeit-Verhältnis (mehr freie Tage pro Arbeitswoche ohne Gehaltsverzicht). Das Umstellen müsste individualvertraglich vereinbart werden. Mindestens muss es möglich sein, die Höchstarbeitszeit von zehn Stunden gelegentlich auszuweiten zu dürfen, wenn innerhalb von zwölf Kalendermonaten im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden.“

Art. 6 der Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG) würde eine solche Umstellung auf Messung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit erlauben.

 

Mitbestimmung des Betriebsrates

Der Betriebsrat hat aufgrund der bestehenden gesetzlichen Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung hinsichtlich des „ob“ der Einführung einer Arbeitszeiterfassung kein Mitbestimmungsrecht. Die Mitbestimmung greift jedoch bezüglich der konkreten Ausgestaltung, solange der Gesetzgeber keine Konkretisierungen vorgenommen hat.

Gerade beim Arbeitsschutz hat der Betriebsrat somit eine gleichberechtigte Mitsprache. Das BAG verweist auch darauf, dass das Ziel des Arbeitsschutzes rein wirtschaftlichen Überlegungen nicht untergeordnet werden kann.

 

Was müssen Consultingunternehmen jetzt umsetzen?

Es besteht eine Handlungspflicht für alle Arbeitgeber unabhängig von der Betriebsgröße und Zahl der Beschäftigten. Bei der Umsetzung ist folgendes zu berücksichtigen:

  • Prüfung, welche Mitarbeiter der Gruppe der leitenden Angestellten zuzuordnen sind und somit aktuell nicht der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung unterliegen.
  • Prüfung, wie die Arbeitszeiterfassung für die verschiedenen Arbeitsbereiche umgesetzt werden soll. Bereits jetzt sind auch einfache elektronische Tools frei beziehbar, mit denen sich Beginn und Ende der Arbeitsblöcke aufzeichnen lassen. Zur Not tut es auch der Stundenzettel auf Papier oder die vom Mitarbeiter selbst geführte Excel-Tabelle.
  • Unter Beachtung der betrieblichen Mitbestimmung sind Betriebsvereinbarungen zur Einführung und Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung zu verhandeln. Die Mitbestimmung zum Arbeitsschutz besteht auch dann, wenn die Arbeitszeiterfassung nicht durch eine technische Einrichtung im Sinne des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG erfolgen soll.
  • Es empfiehlt sich, neben dem Beginn und dem Ende der Arbeitszeit auch die Pausen- und Unterbrechungszeiten und somit nur die „Nettoarbeitszeit“ zu erfassen.
  • „Arbeitszeitschonende“ Planung der Reisen zum Kunden: Consultingunternehmen sollten darauf achten, dass ihre Berater ohne eigene Belastung zum Einsatzort reisen, so dass nicht bereits mit der Reisezeit die tägliche Höchstarbeitszeit „aufgebraucht“ wird.
  • Schulung der Mitarbeiter: Arbeitszeit im Sinne des Arbeitsschutzes ist nur die Arbeitszeit, in welcher der Mitarbeiter arbeitswillig und arbeitsbereit ist. Sogenannte „eigenwirtschaftliche“ Tätigkeiten – zum Beispiel Erledigung von privaten Telefonaten – sind keine Arbeitszeit, auch wenn diese räumlich im Betrieb ausgeführt werden.
  • Im Rahmen eines Compliance Management Systems sollte die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Kontrolle der Arbeitszeiten auf konkrete Personen delegiert und das geschaffene System laufend überwacht und verbessert werden.
  • Im Rahmen der Arbeitsschutzorganisation sollte der Arbeitgeber unabhängig von der Arbeitszeiterfassung und auch für leitende Angestellte Gefährdungsbeurteilungen durchführen, um den Gesundheitsschutz zu verbessern und sicherzustellen.
  • Bei der Einführung der Zeiterfassung sind auch die datenschutzrechtlichen Vorgaben der DS-GVO sowie des BDSG zu beachten, da es sich bei Aufzeichnungen über die Arbeitszeiten der Mitarbeiter (Beginn, Dauer, Ende der Arbeitszeit) um personenbezogene Daten

 

Was bedeutet das für die Vertrauensarbeitszeit?

Im Consulting ist Vertrauensarbeitszeit, bei welcher der Arbeitnehmer selbst über Beginn, Lage und Ende der Arbeitszeit bestimmen kann, üblich. Diese bleibt grundsätzlich auch weiterhin möglich. Vertrauensarbeitszeit bedeutet im Kern, dass Mitarbeiter ihre Arbeitszeit weitgehend eigenständig und selbstverantwortlich gestalten können. Lediglich das Volumen der wöchentlichen oder monatlichen Arbeitszeit wird vom Arbeitgeber festgelegt, nicht aber der Beginn und das Ende.
Auch der Arbeitnehmer mit Vertrauensarbeitszeit muss aber die Grundregeln des Arbeitszeitgesetzes kennen und einhalten und der Arbeitgeber muss durch Kontrolle der Arbeitszeiterfassung sicherstellen, dass die zwingenden und nicht abdingbaren Vorgaben des Gesundheitsschutzes nachweislich eingehalten werden.

 

Folgen von Verstößen?

Was droht, wenn sich der Arbeitgeber nicht an die Erfassungspflicht hält? Was sind die Sanktionen?
Nach § 21 ArbSchG müssen die zuständigen Landesbehörden jährlich eine bestimmte Anzahl von Routinebesichtigungen und -überprüfungen zur Einhaltung des ArbSchG in Betrieben durchführen. Dabei wird auch geprüft werden, ob ein System zur Arbeitszeiterfassung besteht. Bei Verstößen des Arbeitgebers gegen Verpflichtungen aus dem Arbeitsschutzgesetz kann die Behörde gemäß § 22 Abs. 3 ArbSchG im Einzelfall anordnen, welche Maßnahmen der Arbeitgeber und die verantwortlichen Personen oder die Beschäftigten zur Erfüllung der Pflichten zu treffen haben. Beispielsweise kann die Einführung eines Zeiterfassungssystems angeordnet werden. Erst wenn ein Arbeitgeber dieser Anordnung nicht nachkommt, kann ein Bußgeld von bis zu 30.000 Euro gemäß § 25 Abs. 1 Nr. 2a ArbSchG verhängt werden.

Arbeitgeber sollten jedoch bedenken, dass bereits jetzt nach § 16 Abs. 2 ArbZG die Verpflichtung besteht, die täglich über 8 Stunden hinausgehende Arbeitszeit aufzuzeichnen und die Aufzeichnungen für den Fall der Kontrolle durch die Behörde 2 Jahre aufzubewahren. Wird gegen diese gesetzliche Verpflichtung verstoßen, kann unmittelbar ein Bußgeld verhängt werden.

 

Ausblick

Ein neuer Referentenentwurf zur Überarbeitung des Arbeitszeitgesetzes ist angekündigt. Arbeitsminister Heil hat mitgeteilt, dass „sein Haus voraussichtlich im 1. Quartal 2023 einen praxistauglichen Vorschlag für die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz machen werde.“

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