Vom Automobilhersteller zum multimodalen Mobilitätsanbieter - Neue Rollen, neue Chancen
Die deutsche Autoindustrie steht vor dem größten Umbau ihrer Geschichte. Staus, verstopfte Innenstädte und Stellplatznot bereiten den Autofahrern eher Stress als Freude am Fahren. Neue Mobilitätsformen wie Sharing oder Ride Hailing und nutzerfreundlicher ausgestaltete öffentliche Verkehrsmittel sind auf dem Vormarsch.
Auch Städte und Kommunen steuern verkehrspolitisch um. Anstelle der autogerechten Stadt stehen Parkraumverknappung und -verteuerung, Rad- und Busspuren, Maut und Fahrverbote ganz oben auf der Agenda. Klimaschutzmaßnahmen finden mittlerweile eine breite Zustimmung in der Bevölkerung.
Vor allem jüngere Kunden kaufen Mobilität als Dienstleistung und nicht als Produkt – der Besitz des Pkws rückt in den Hintergrund. Hinzu kommen digitale Applikationen, die verschiedene Mobilitätsoptionen integrieren und intermodales Routing, Ticketing und Bezahlung ermöglichen. Die digitale Mobilität schafft neue Spielregeln für die deutsche Autoindustrie. Verkehrsmittel wie das Auto sind künftig Teil eines digitalen Verkehrssystems, das sich neben der physischen Hardware wesentlich auch durch die Digitalkomponente auszeichnet. Hierbei spielt die physische und digitale Systemintegration eine entscheidende Rolle.
Digitale Mobilität unterscheidet sich in drei Bausteinen elementar vom heutigen Automarkt:
▶ Mobilität wird als Service gekauft, nicht als Produkt.
▶ Mobilität besteht aus den zwei gleichwertigen Elementen „physischer Transport“ und „digitale Komponente“.
▶ Erfolgsfaktor der Mobilität ist die physische und digitale Integration verschiedener Verkehrsmittel.
Automobilhersteller müssen ihre Rolle in der multimodalen digitalen Mobilitätswelt neu definieren
Das Beispiel E-Scooter zeigt, dass kleine, flexible Start-ups innerhalb kürzester Zeit innovative Mobilitätsangebote auf den Markt bringen können. Was heute bei E-Scootern zu beobachten ist, kann schon morgen für flächendeckende Fahrtbuchungen per App (Ride-Hailing) gelten. Autovermietungen entwickeln sich zu Ride-Hailing-Anbietern und Tech-Unternehmen integrieren Sharing-Dienste in ihre Fahrplanauskunfts- und Navigationsanwendungen. Im digitalen Mobilitätsmarkt lassen sich aktuell drei Gruppen unterscheiden:
▶ Zulieferer der „Hardware“ – Fahrzeug- und Infrastrukturlieferanten
▶ Mobilitätsdienstleister – große Mobilitätsunternehmen wie Deutsche Bahn und Lufthansa, Stadtwerke, Verkehrsverbünde, ÖPNV-Träger und
viele Newcomer wie FlixMobility, Uber, Bird oder Lime
▶ Plattform- und Digital-/Tech-Unternehmen – etablierte Internet- Unternehmen wie Google (Alphabet) und Apple sowie zahlreiche
kleinere Software- und Dienstleistungsunternehmen.
Alle diese Akteure und ihre Investoren loten derzeit ihre strategischen Entwicklungsmöglichkeiten aus – von der Produktion innovativer Verkehrsmittel über den Einstieg in Sharing-Dienste und digitale Plattformlösungen bis zum Auftritt als integrierter Komplettanbieter. Je nach Ausgangssituation, Kernkompetenzen und Zielen ergeben sich unterschiedliche strategische Stoßrichtungen. Den Automobilherstellern, privaten Sharing-Anbietern und E-Scooter-Betreibern geht es mittelfristig um Rentabilität. Plattformunternehmen erstreben ein End-to-End-Angebot, um so den Zugang zum Kunden im eigenen Einflussbereich zu halten. Die Auswertung von Nutzungs- und Nutzerdaten verspricht zusätzliche Geschäftsmodelle. Darüber hinaus bieten Hardware und Services umfassendes Umsatzpotenzial. Die deutschen Automobilhersteller bringen derzeit viele neue Mobilitätsangebote in Form von Services oder Fahrzeugen auf den Markt. Diese Pilotprojekte und Digitalinnovationen sollten in einem strategischen Gesamtkonzept verankert werden, aus dem klar hervorgeht, wer oder was das Unternehmen sein will, welche Produkte, Services und Wertschöpfung es bereitstellen will und mit welchen Ansätzen dies geschehen soll.
Eine Lösung kann hier die Entwicklung zum digitalen Mobilitätsdienstleister sein. Erst mit einer schlüssigen Gesamtstrategie können die Wertschöpfungspotenziale der einzelnen Initiativen im Unternehmen genutzt und wenig ertragreiche Insellösungen vermieden werden.
Den strategischen Lösungsraum erkunden
Der strategische Lösungsraum auf dem Weg zum Mobilitätsdienstleister umfasst sechs Dimensionen. Für den Automobilhersteller gilt es folgende sechs Fragen zu beantworten:
1. Hardware-Angebot
Welche Verkehrsträger sollen neben dem Kerngeschäft Automobil mittelfristig hergestellt bzw. in das Mobilitätsangebot aufgenommen werden? E-Scooter, Zweiräder, Busse, Bahnen, neue Verkehrsträger oder neue Verkehrsmittel wie beispielsweise Flugtaxis?
2. Geschäfts- und Betreibermodelle
Als Produzent reichten bislang Verkauf und Leasing. Ein Mobilitätsdienstleister muss über die neuen internetbasierten Betreibermodelle wie Sharing, Hailing, Shuttle Services entscheiden. Welche davon sind für die geplanten Mobilitätsangebote relevant, wie können sie für den Nutzer attraktiv gestaltet werden? Eigener Auftritt, Franchising oder lokale Partner? Welche Kombinationen sind sinnvoll – z.B. Leihwagen plus E-Scooter?
3. Gestaltung der Digitalplattform
Wie sollen User Interface und Plattform-Integration, also die Zusammenführung aller digitalen Teilleistungen zu einer Mobilitätsplattform (Portal) gestaltet sein? Unter welcher/-n Marke(n) firmiert das Angebot? Plattform oder Einzelanwendung? Welche Partner kommen in Frage?
4. Räumliche Reichweite
Mobilitätsanbieter müssen über die räumliche Reichweite des Angebots entscheiden. Auf welche Strukturen passt das Angebot am besten? Welche Mobilitätsaufgaben löst es? Soll das Mobilitätsprodukt weltweit implementierbar und skalierbar sein oder auf lokale Gegebenheiten angepasst werden?
5. Wertschöpfung
Wie können Automobilhersteller die Wertschöpfung rund um das Mobilitätsprodukt strategisch erweitern? Können sie ihre Werkstatt-Infrastruktur einbringen, wenn es z.B. um das Laden von E-Fahrzeugen geht? Wie lassen sich After-Sales-Services und Logistik vorteilhaft nutzen? Welche erweiterten Kundenservices sind denkbar?
6. Make or Buy?
Welche Kernkompetenzen sind für die gewählte Strategie erforderlich? Was soll selbst erstellt, was soll fremdbezogen werden? Wie muss die Zuliefererkette strukturiert sein? Mit welchen Partnern soll kooperiert werden und zu welchen Bedingungen?
Strategische Chancen: Monopolstellung oder Kooperation bei der Mobilität?
Digitale Mobilität bietet den Automobilherstellern einige strategische Chancen. Täglich entstehen neue Mobilitätsplattformen, Pilotprojekte, Konsortien und Initiativen. Bei der überwiegenden Mehrzahl geht es primär um die Verbesserung des öffentlichen Verkehrs. Initiatoren sind die Städte und Kommunen bzw. Trägerschaften des öffentlichen Regionalverkehrs, die auch gerne die Rolle des Gesamtintegrators für sich beanspruchen. Gleichzeitig ist die öffentliche Hand auf privatwirtschaftliche Partner für wesentliche Teillösungen angewiesen. Ziel dieser städtisch initiierten Vorstöße sind integrierte, flexible, digitale und nutzerorientierte Mobilitätsangebote typischerweise mit regionaler Reichweite. Basis ist dabei das öffentliche Personentransportsystem, das um konkurrierende und komplementäre Individualverkehrsoptionen physisch und digital zu erweitern ist.
Mobilitätsplattformen
Mobilitätsplattformen werden derzeit auf der ganzen Welt eingeführt. Pilotprojekte, etwa in Wien, Oslo, Helsinki oder Göteborg, zeigen gute Nutzerakzeptanz, höhere ÖPNV-Nutzung und Rückgang der privaten Pkw- Nutzung. Basis ist ein Masterplan mit verkehrspolitischen Zielen, Rahmenbedingungen und Wettbewerbsregeln der zuständigen Verkehrsbehörde für ein Stadt- oder Ballungsgebiet. Eine solche Plattform bietet im besten Fall Services für alle Verkehrsmittel. Auch das Verkehrsmittel Auto kann mit wertschöpfenden digitalen Services in das digitale Verkehrssystem eingebunden werden. Wenn eine Fahrt beispielsweise zum P+R-Parkplatz per Pkw erfolgt, könnte der Service in Parkplatzauskunft, Reservierung und Abrechnung bestehen sowie bei Weiterreise mit dem Bus in Fahrplanauskunft und Ticketing bei Weiterfahrt mit dem E-Bike im Hinweis auf die nächste verfügbare Ladestation usw. Der Nutzer will Integration: auf der Digitalseite ein einfaches, zuverlässiges, personalisierbares Interface mit Grundfunktionalitäten, und auf der Transportseite z.B. abgestimmte Fahrpläne und Mobilitätshubs, Stell- und Ladeplätze für E-Auto/E-Bike sowie integrierte Miet- und Sharingangebote. Demnach muss das Portal oder die App folgende Grundfunktionalitäten vorhalten:
▶ Auskunft, z.B. über Fahrpläne, Haltestellen, Anschlüsse, Buchungsmöglichkeiten, Fahrzeugverfügbarkeit, Kosten, erwartete Ankunftszeiten
▶ Intermodaler Routenvorschlag unter Berücksichtigung gegebener Zielkriterien wie Kosten, Zeit oder Komfort
▶ Booking – einfache, schnelle, zuverlässige Buchung, Möglichkeiten zur Umbuchung, Stornierung
▶ Ticketing – Ausstellung eines E-Tickets auf dem Smartphone
▶ Billing – Abrechnung und Verrechnung mit allen involvierten Dienstleistern
▶ Management – Datenauswertung für Mobilitätsverhalten, Modal-Split oder Marktforschung
▶ Policy Making – Politischen Gestaltungsspielraum erkunden und regulatorisch überwachen
Des Weiteren sollten möglichst viele und unterschiedliche Mobilitätsangebote verfügbar sein: Öffentlicher Nah- und Fernverkehr, Leihwagen, Car Sharing, Bike-/E-Scooter Sharing, Ride Hailing, Shuttle Services und andere Mobilitätsformen. Mit den unterschiedlichen Mobilitätsplattformen entstehen für die Automobilindustrie vielfältige Kooperationsmöglichkeiten, abhängig von der festgelegten Grundstrategie: Sieht sich das Unternehmen in der Rolle des weltweiten Integrators, des Zulieferers von Teilsystemen oder des Betreibers regional begrenzter Mobilitätsportale? Wie wichtig ist ein eigenes Kundeninterface? Welche weiteren Partner sollen Teil der Mobilitätsdienstleistung sein? Bei den Projektmodellen der Plattformen können drei Ansätze unterschieden werden:
Modell 1: Weltweite Mobilitätsplattform mit einem dominanten Integrator
Ziel ist der Aufbau einer Dachmarke als Einstieg in darunterliegende regionale Mobilitätsangebote. Bei diesem Modell gibt es einen dominanten Integrator, der das Interface zum Kunden für sich allein beansprucht und alle „darunterliegenden“ Dienste mehr oder minder gut integriert und kontrolliert. Er strebt an, den zentralen Nutzerzugang zu Mobilität zu bilden. Strategisch relevant sind die Kundenbindung und die Vermarktung der Nutzerdaten.
Diesen Ansatz verfolgen große Digitalunternehmen wie Google oder Uber, aber auch die Plattform Quixxit der Deutschen Bahn oder die „Now“-Familie (Joint Venture von BMW und Daimler). Die Gemeinschaftsplattform „You Now“ bietet eine Reihe von autonahen Mobilitätsservices an und fungiert als Dachmarke für verschiedene Plattformen, prinzipiell mit weltweiter Reichweite.
Modell 2: Lokale Plattform mit Dominanz des öffentlichen Verkehrsträgers
Die Projektleitung liegt allein bei den Kommunen bzw. Stadtwerken. Sie bestimmen Projektumfang, Verkehrsträger, verkehrspolitische Ziele, Vergütungsmechanismen, Spielregeln des Konsortiums, entwickeln und betreiben die Plattform und das Kundeninterface. Für definierte Teilaufgaben werden private Unternehmen als Lieferanten hinzugezogen, die aber für den Nutzer unsichtbar bleiben. Dieses Modell liegt z.B. Hannovermobil 2.0 zugrunde, ein Projekt, das ursprünglich von einem Multi-Ticket mit Rabatten und Pauschalpreisen für verschiedene Verkehrsträger ausging und im Wesentlichen um Sharingdienste erweitert wurde.
Modell 3: Mehrere Kundeninterfaces
Bei diesem Ansatz bestehen mehrere Kundeninterfaces, je nach beteiligten Verkehrsunternehmen, Geltungsräumen oder anderen nutzerorientierten Kriterien. Meist gibt es ein Interface für öffentlichen Verkehr, mit dem komplementäre oder auch konkurrierende Anschlussdienste verlinkt sind, und darüber hinaus dann noch Plattformzugänge über die Apps einzelner Partner. Dieses Modell ist am häufigsten anzutreffen. Beispiele sind Ubi- Go in Schweden oder die mittlerweile zahlreichen Pilotprojekte der MaaS Alliance, die als „public private partnerships“ öffentliche Hand und private Partner für Mobilitätslösungen strukturiert zusammenbringen.
Automobilhersteller als Partner für regionale öffentliche Mobilitätsprojekte
Regionalportale sind regional begrenzte Mobilitätsportale, die Individualverkehrsangebote und vorhandene ÖPNV-Strukturen integrieren, z. B. die der BVG in Berlin oder des Verkehrsverbunds Rhein-Sieg. In der Regel sind öffentliche Verkehrsgesellschaften in der Führungsrolle (Modell 2), benötigen aber Partner mit Plattform-Know-how und implementierungsfähigen anpassbaren Teilsystemen etwa für den Individualverkehr. Alternativ gibt es offene Modelle, in denen private Service-Provider mit eigener Marke und eigenem Kundeninterface auftreten können, was klare Verantwortlichkeiten und Transparenz für den Kunden schafft (Modell 3). Dieser Ansatz der Regionalportale hat für Automobilhersteller in der Rolle als Partner für definierte Teilsysteme eine Reihe von Vorteilen. Weltweit gibt es zahlreiche Projekte mit zeitlich und regional begrenztem Umfang. Trotz lokaler Besonderheiten können viele Lösungen übertragen werden und führen so zu Synergien. Die strategische Rolle des Automobilherstellers kann sich von Projekt zu Projekt fortentwickeln. Andererseits ist der Ansatz personalintensiv und stellt hohe Ansprüche an die Qualität der Kooperation. Der einzelne Konsortialpartner ist von anderen, z.T. konkurrierenden Partnern abhängig, und der „Business Case“ ist nicht immer eindeutig (im Falle von Modell 1 ist er das aber auch nicht automatisch).
Durch ihre Kernkompetenzen haben die Automobilhersteller als Partner für öffentliche Mobilitätsprojekte eine Reihe von Vorzügen. Sie verfügen über ein hervorragend ausgebautes Service- und Werkstattnetz, das z.B. als Reparatur-, Service-, Lade- und Relaisstation dienen kann, und sie sind kompetent im Management komplexer Zuliefererketten. Neben der Technologiekompetenz sind alle mit „Connectivity“ bestens vertraut, also der Fahrzeugeinbindung in digitale Infrastruktur. Hinzu kommt ausgeprägte Digitalkompetenz, insbesondere in den Bereichen Big Data, Data Analytics und Autonomes Fahren. Bei Projekten dieser Art sollten möglichst alle relevanten Interessengruppen in einer frühen Projektphase berücksichtigt werden, auch wenn das zunächst Zeit kostet und zu Reibungsverlusten führt. Letztlich ist dieser Ansatz aber eben auch nur eine mögliche Richtung im oben beschriebenen strategischen Lösungsraum; andere Richtungen sind möglich oder gar notwendig, um auch mittelfristig die eigenen Marken von denen anderer Hersteller ausreichend zu differenzieren.
Fazit des Thinktanks: Evolution statt Big Bang
Die Entwicklung der digitalen Verkehrssysteme und ihre Integration bietet Chancen wie auch Risiken für Automobilhersteller. Wegen der Komplexität und der Schnelligkeit der Entwicklungen rät der Thinktank zu empirischen Feldversuchen mit klar definierten Zielen, aber überschaubaren Risiken. Mit kleinen schnellen Projektschritten – beispielsweise im Rahmen von Regionalportalen statt einer aufwändigen investitionsintensiven Großlösung – können Automobilhersteller neue Geschäftsmodelle erschließen und ihr Ertragspotenzial testen. Die Komplexität sollte, wo immer möglich, reduziert werden. Lösungen müssen einfach, robust und fehlertolerant sein. Das gilt für den physischen wie für den digitalen Teil. Wichtig ist auch ein fairer Umgang mit den Partnern und Sicherung eines Wettbewerbs in klar definiertem Rahmen, um Monopolstellungen zu vermeiden.
Die Herausforderungen in einem disruptiven Mobilitätsmarkt können nicht mit Patentrezepten gelöst werden, unabhängig davon, wo ein Automobilhersteller seine zukünftige Rolle im neuen Mobilitätsmarkt sieht. Nicht jeder Automobilhersteller wird ein globaler Mobilitätsanbieter werden können und wollen. Eine Neukonzeption der strategischen Grundausrichtung erscheint in jedem Fall geboten. Allianzen, Kooperationen und Konsortien können ein Mittel der Wahl sein, in denen die Automobilhersteller mit ihren Erfahrungen und Stärken punkten können. Das ist dann auch der Weg, der die Ertragskraft erhalten oder gar steigern kann.
E-Scooter: Nur Freizeit-Spaß oder echte Trendwende?
Der Thinktank hat anhand des Beispiels E-Scooter untersucht wie Mikromobilität den Mobilitätsmarkt verändert.
Seit Juli 2019 sind E-Scooter in allen deutschen Großstädten auf der Straße. Noch nie zuvor wurde weltweit so schnell ein neues Verkehrsmittel mitsamt der notwendigen Infrastruktur in den Markt gebracht. Das Marktpotenzial von E-Scootern lockt neben spezialisierten Start-ups wie Lime, Bird, Voi oder Tier neue Interessenten/Player ganz unterschiedlicher Herkunft in den Mobilitätsmarkt. Den neuen Anbietern geht es zunächst um physische Marktpräsenz: Die Nutzungs- und Stellflächen mit den eigenen E-Scootern zu besetzen und den Wettbewerb auf diese Weise zu verdrängen, denn für den Nutzer ist nur der E-Scooter relevant, der sofort und möglichst überall verfügbar ist.
Aber die großen E-Scooter-Anbieter und ihre Investoren verfolgen weiter reichende Ziele. Strategisch geht es um den digitalen Kundenzugang, Nutzerdaten in Echtzeit, Kundenbindung, wachsende Marktanteile und den extensiven Markenausbau, anfangs zu Lasten der Profitabilität. In einer zweiten Phase wird es zu einer Konsolidierung und Ausdifferenzierung auf Nutzer- und Anbieterseite kommen; die ersten Anzeichen sind schon zu sehen.
Nutzen und Potenziale von E-Scootern aus Kundensicht
Auch wenn sie derzeit eher für negative Schlagzeilen in den Medien sorgen: E-Scooter bereiten ihren Nutzern ein ganz neues Mobilitätserlebnis. Mikromobilitätsangebote stoßen vor in den Mobilitätsbereich zwischen „zu Fuß gehen“ und „mit dem Rad fahren“ und schließen so die Lücke der Mobilität für die „erste“ bzw. „letzte“ Meile. Auch die aktuelle Umfrage des BDU zum Thema E-Scooter zeigt ein hohes Interesse der Nutzer an diesem Verkehrsmittel. Mehr als 75 % der Befragten gaben an, E-Scooter bereits ausprobiert zu haben oder dies in Kürze tun zu wollen. Nur etwa 10 % zeigen kein Interesse an einer Nutzung. In Städten hat bereits jeder zweite Erfahrungen mit Sharing-Angeboten, z.B. bei Auto und Fahrrad, gesammelt. In ländlichen Regionen sind es nur 7 %. Bei ökonomischer und ökologischer Betrachtung zeigt sich, dass E-Scooter im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln ein schnelles, emissionsfreies, aber auch relativ teures Verkehrsmittel für die Kurzstrecke sind.
Strecke: von Schlesisches Tor (Berlin-Kreuzberg) zur Humboldt-Universität zu Berlin (Berlin-Mitte):
¹ Die Entfernung und Zeiten wurde auf Grundlage Googlemaps berechnet
² Die Kosten wurde auf Basis von Mittelwerten der vor Ort verfügbaren Anbietern ermittelt.
³ Berechnungsgrundlage war ein Wert von 130g/km
⁴ Vgl. https://www.vcd.org/themen/klimafreundliche-mobilitaet/verkehrsmittel-im-vergleich/
⁵ Als Referenz wurde ein Golf 1.5 TSI OPF ACT Comfortline ausgewählt mit 47,6 Cent/km (TCO) https://www.adac.de/_mmm/pdf/autokostenuebersicht_47085.pdf
Highlights der Befragung:
▶ E-Scooter werden positiv gesehen – 75 % wollen E-Scooter ausprobieren oder haben es schon getan
▶ Die Hälfte sieht Scooter als Spaß- und Freizeitgerät, die andere Hälfte als zeitsparendes Transportmittel für Kurzstrecken zur Arbeit, zum Pkw, zur Bahn, ÖPNV
▶ E-Scooter ersetzen primär Wege zu Fuß oder mit dem ÖPNV, Autofahrten nur zu einem geringen Teil
▶ Zwei Drittel der Befragten wollen E-Scooter sharen, ein Drittel will sogar kaufen
▶ Trotz geringer Sichtbarkeit wird den Automobilherstellern in diesem Markt viel Vertrauen entgegengebracht
▶ Hauptnachteile nach Meinung der Befragten sind die Unfallgefahr, die Wetterabhängigkeit und fehlende Lademöglichkeiten
▶ Stadtbewohner haben eher Erfahrung mit Sharingangeboten (50 %) als Landbewohner (7 %)
Fazit: E-Scooter genießen bei den Kunden breite Akzeptanz, konkurrieren aber nicht mit dem Auto. Quelle: Online-Kundenbefragung des BDU Juni-Juli 2019, Teilnehmerstruktur der Befragung: 80 % unter 45 Jahren, 72 % männlich, 70 % Stadtbewohner.
Quelle: Online-Kundenbefragung des BDU Juni-Juli 2019, Teilnehmerstruktur der Befragung: 80 % unter 45 Jahren, 72 % männlich, 70 % Stadtbewohner.
Automobilhersteller und E-Scooter – the perfect match?
Zusätzlich zeigt die BDU-Umfrage, dass die Automobilhersteller als Hardware-Entwickler hohes Kundenvertrauen genießen. E-Scooter bieten ihnen darüber hinaus aufgrund der geringen Konkurrenz mit dem Auto die Chance, neue digitale Mobilitätsstrategien zu entwickeln und zu testen, ohne Auswirkungen auf das automobile Stammgeschäft zu riskieren. Hier eröffnet sich ein ideales Experimentierfeld für die Digitalkomponenten, für Connectivity-Dienste zwischen E-Scooter und Betreiber, für Betreibermodelle wie z.B. Franchising oder auch multimodale Einbindung von E-Scootern.
Die Automobilhersteller sind im E-Scooter-Markt bereits mit ersten Hardware-Entwicklungen aktiv. Gleichzeitig beteiligen sie sich an
Start-ups und/oder integrieren die Lösungen der Start-ups in ihre Produkte.
So gesehen kann Mikromobilität für Automobilhersteller ein strategischer Baustein auf dem Weg zum multimodalen Mobilitätsanbieter sein. Beispielsweise können E-Scooter für Kurzdistanzen als komplementäre Ergänzung im (E-)Auto mitgeführt werden. Der E-Scooter ist damit überall verfügbar, stets geladen, sicher verwahrt und das bei geringem Platzbedarf. Das Auto erhält Zusatznutzen, der E-Scooter wird Bestandteil einer multimodalen flexiblen Mobilitätskette. Hier sind die Automobilhersteller bereits aktiv. Auch der Ansatz, den E-Scooter zusammen mit dem Automobil zu verkaufen, bietet Marktpotenzial.
Ihre Ansprechpartnerin in der BDU-Geschäftsstelle
Heike Borchert-Dietz steht Ihnen gerne für Fragen zur Verfügung.